Sprachbildung
Sprachbildung gehört seit vielen Jahren zum prägenden Forschungsschwerpunkt der altsprachlichen Fachdidaktik an der HU. Ausgehend vom Projekt Pons Latinus, das mit dem Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln entwickelt, durchgeführt und empirisch evaluiert wurde, haben wir nicht nur eine Vielzahl von Publikationen veröffentlicht und das Thema fest in die universitäre Lehre und die Lehrkräftefortbildung integriert, sondern entwickeln es auch kontinuierlich weiter: So begleiten wir aktuell den mehrjährigen Schulversuch „Altsprachlicher Zug mit erster Fremdsprache Französisch“ am Diesterweg-Gymnasium in Berlin-Wedding, in dem die Förderung der Sprachbildung im Vordergrund steht. Das von uns entwickelte Konzept lässt sich folgendermaßen erklären:
„Die kulturelle und sprachliche Heterogenität unserer SuS ist im Lateinunterricht längst tägliche Realität und verlangt nach neuen didaktischen Konzepten: Der Lateinunterricht muss in der Lage sein, allen seinen SuS, unabhängig von ihrer a Erstsprache und Herkunft, ein möglichst passgenaues und perspektivenreiches Bildungsangebot zu machen. Ein vielversprechendes, obendrein wissenschaftlich evaluiertes Konzept, das den Lateinunterricht in diesem Sinne wirksam werden lassen kann, ist die sogenannte Sprachbildung. In vielen Bundesländern ist sie mittlerweile eine Querschnittsaufgabe für alle Fächer geworden und bezeichnet die systematische Förderung von Sprachentwicklungsprozessen aller SuS. Wenn der Lateinunterricht hierzu seinen spezifischen Beitrag leistet […], eröffnet sich ihm die große Chance, seine gesellschaftliche Bedeutsamkeit nachvollziehbar unter Beweis zu stellen. Durch die gezielte Förderung standardsprachlicher Fähigkeiten im Dt. kann er aktiv dazu beitragen, den schulischen und beruflichen Erfolg seiner SuS sowie deren aktive gesellschaftliche Teilhabe zu fördern. […]
Um sprachbildend wirksam werden zu können, muss im Lateinunterricht sensibel auf die unterschiedlichen sprachlichen Voraussetzungen der SuS reagiert werden. So ist es notwendig, die typischen sprachlichen Stolpersteine zu kennen, die im Lateinunterricht bei der Verwendung des Dt. als Erst- und Zweitsprache auftreten, also z. B. im Umgang mit Artikeln und Adjektiven, Präpositionen, Passiv und Futur sowie Relativsätzen und Partizipialkonstruktionen.
Ein sprachbildend ausgerichteter Lateinunterricht hat stets eine doppelte Zielsetzung: SuS sollen nicht nur eine standardsprachliche Handlungskompetenz im Dt. entwickeln. Vielmehr muss auch stets die lat. Sprachkompetenz gefördert werden. Sprachbildender Lateinunterricht dient somit ebenfalls dazu, die spezifischen Ziele des Lateinunterrichts besser zu erreichen. Man darf sich daher nicht darauf beschränken, nur die in lat. Unterrichtsmaterialien auftretenden dt. Texte zu vereinfachen. Der Unterricht wirkt vielmehr erst dann sprachbildend, wenn fachintegriert, d. h. durch die intensive Auseinandersetzung mit der lat. Sprache, und systematisch die Sprachentwicklung im Dt. gefördert wird.
In einem sprachbildend ausgerichteten Lateinunterricht können bis zu drei Sprachen produktiv miteinander in Beziehung gesetzt werden, und zwar mit ihren Unterschieden und Ähnlichkeiten: die jeweilige Herkunftssprache, Deutsch als Erst- oder Zweitsprache und Latein. Dabei sollen Lernerleichterungen nicht allein durch die Nutzung von sprachlichen Analogien hergestellt werden. Vielmehr sollen Nähe und Verschiedenheit der jeweiligen Sprachen so genutzt werden, dass die sprachlichen Fähigkeiten im Deutschen unter Zuhilfenahme des Lateinischen gefördert werden, das als neutral bezeichnet werden kann, weil es niemandes Erstsprache ist. Latein ist so mit einer Brücke vergleichbar, die die SuS von der Umgangssprache zur Standardsprache führt. Dabei spielt es keine Rolle, ob Dt. Erst- oder Zweitsprache der SuS ist.“
(Quelle: Stefan Kipf (Hrsg.) (2024): Adeamus! 2, Ausgabe N, Sprachbildend unterrichten. Berlin: Cornelsen, 5f.