Humboldt-Universität zu Berlin - Sprach- und literaturwissenschaftliche Fakultät - Institut für Klassische Philologie, HU Berlin

Digitalisierungsbezogene Kompetenzen

Neben den unabdingbaren fachspezifischen Kompetenzen benötigen (Lehramts-)Studierende im Rahmen ihrer Professionalisierung zahlreiche weitere Kompetenzen. Hierzu zählen unbestritten pädagogische und didaktische Fähigkeiten, die es den zukünftigen Lehrenden ermöglichen, ihren Unterricht qualitativ hochwertig zu gestalten. Doch obwohl die Digitalisierung bereits seit Längerem alle gesellschaftlichen Felder (Schule, Ausbildung, Arbeit, Freizeit) erheblich beeinflusst, muss weiterhin den meisten Lernenden in Schule und Universität ein geringes Kompetenzniveau hinsichtlich ihrer "digitalen" Kompetenzen bescheinigt werden.

 

Das Strategie-Papier der KMK

Um allen Menschen zumindest die freie Entscheidung zu ermöglichen, ob und wie sie an gesellschaftlichen Prozessen beteiligt sein möchten, benötigen sie im Zeitalter der Digitalisierung zumindest einen gewissen Grad an „digitaler Bildung“. Demnach ist es nur folgerichtig, dass die deutsche Bildungspolitik die „Bildung in der digitalen Welt“ mit einem Strategiepapier (2016)[1] und ihrem „Digitalpakt“ (2018)[2] zu höchster Priorität erhoben hat:

„Die Digitalisierung unserer Welt wird hier im weiteren Sinne verstanden als Prozess, in dem digitale Medien und digitale Werkzeuge zunehmend an die Stelle analoger Verfahren treten und diese nicht nur ablösen, sondern neue Perspektiven in allen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereichen erschließen, aber auch neue Fragestellungen z.  B.  zum Schutz der Privatsphäre mit sich bringen. Sie ist für den gesamten Bildungsbereich Chance und Herausforderung zugleich. Chance, weil sie dazu beitragen kann, formale Bildungsprozesse – das Lehren und Lernen – so zu verändern, dass Talente und Potentiale individuell gefördert werden; Herausforderung, weil sowohl die bisher praktizierten Lehr- und Lernformen sowie die Struktur von Lernumgebungen überdacht und neu gestaltet als auch die Bildungsziele kritisch überprüft und erweitert werden müssen. Herausforderung aber auch, weil dafür infrastrukturelle, rechtliche und personelle Rahmenbedingungen zu schaffen sind.“(Kultusministerkonferenz 07.12.2017:8)

Kompetenzbereiche des Strategie-Papiers

Die Kompetenzbereiche 1-5 sowie ihre aufgeführten Kompetenzen entsprechen weitgehend dem europäischen Referenzrahmen DigComp 2.0 (2016) (Carretero et al. 2017), während der letzte Bereich vor allem das „Kompetenzorientierte Konzept für die schulische Medienbildung“ der Länderkonferenz MedienBildung (2015) aufgreift.

 

Kompetenzbereich

Kompetenzen

1

Suchen, Verarbeiten und Aufbewahren

(Information and Data Literacy)

1.1 Suchen und Filtern

1.2 Auswerten und Bewerten

1.3 Speichern und Abrufen

2

Kommunizieren und Kooperieren

(Communication and Collaboration)

2.1 Interagieren

2.2 Teilen

2.3 Zusammenarbeiten

2.4 Umgangsregeln kennen und einhalten (Netiquette)

2.5 An der Gesellschaft aktiv teilhaben

3

Produzieren und Präsentieren

(Digital Content Creation)

3.1 Entwickeln und Produzieren

3.2 Weiterverarbeiten und Integrieren

3.3 Rechtliche Vorgaben beachten

4

Schützen und

sicher Agieren

(Safety)

4.1 Sicher in digitalen Umgebungen agieren

4.2 Persönliche Daten und Privatsphäre schützen

4.3 Gesundheit schützen

4.4 Natur und Umwelt schützen

5

Problemlösen und Handeln

(Problem Solving)

5.1 Technische Probleme lösen

5.2 Werkzeuge bedarfsgerecht einsetzen

5.3 Eigene Defizite ermitteln und nach Lösungen suchen

5.4 Digitale Werkzeuge und Medien zum Lernen, Arbeiten und Problemlösen nutzen

5.5 Algorithmen erkennen und formulieren

6

Analysieren und Reflektieren

6.1 Medien analysieren und bewerten

6.2 Medien in der digitalen Welt verstehen und reflektieren


[1] Der im Strategiepapier vorgelegte Kompetenzrahmen verpflichtet die Länder, „dafür Sorge zu tragen, dass alle Schülerinnen und Schüler, die zum Schuljahr 2018/2019 in die Grundschule eingeschult werden oder in die Sek I eintreten, bis zum Ende der Pflichtschulzeit die in diesem Rahmen formulierten Kompetenzen erwerben können“ (Kultusministerkonferenz 07.12.2017:19).

[2] „Mit dem DigitalPakt Schule unterstützt der Bund die Länder und Gemeinden bei Investitionen in die digitale Bildungsinfrastruktur. Ziele des Digitalpaktes sind der flächendeckende Aufbau einer zeitgemäßen digitalen Bildungs-Infrastruktur unter dem Primat der Pädagogik. Dazu verpflichten sich die Länder entsprechend ihrer Strategie „Bildung in der digitalen Welt“, digitale Bildung durch pädagogische Konzepte, Anpassung von Lehrplänen und Umgestaltung der Lehreraus- und -weiterbildung umzusetzen. Im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Möglichkeiten stellt der Bund für Investitionen in die digitale Bildungsinfrastruktur insgesamt 5 Milliarden Euro zur Verfügung, […].“ https://www.digitalpaktschule.de/de/was-ist-der-digitalpakt-schule-1701.html, 12.7.2020.

Aktuelle Studienergebnisse zum Kompetenzniveau

Es kann festgestellt werden, dass das Thema Digitalisierung im letzten Jahrzehnt sowohl (bildungs-)theoretisch als auch wissenschaftlich reflektiert im Unterrichtsalltag angekommen ist. Zurecht wird inzwischen deutlich seltener darauf verwiesen, digitales Lernen scheitere vor allem an der technischen Ausstattung der Lernenden, Lehrenden und Schulen, auch wenn diese in den Schulen sicherlich oft erschreckend rückständig ist. Wie die letzte JIM-Studie (2019) zum Medienumgang der 12- bis 19-Jährigen (N = 1200) erneut zeigt, verfügen 93 % der Jugendlichen über ein eigenes Smartphone (97 % 2018; 99 % pro Haushalt) und 87 % über einen (uneingeschränkten) WLAN-Zugang (Feierabend et al. März 2019:7f.).[1] Als problematisch für die Umsetzung des Kompetenzrahmens dürfte sich eher erweisen, dass der Prozentsatz an größeren Rechnern (Tablet, Laptop, PC) nicht nur ebenfalls rückläufig ist, sondern keinesfalls die Abdeckungsdichte der Smartphones erreicht (65 % Computer/Laptop, 47 % Laptop, 29 % Computer, 25 % Tablet, ebd. S. 7). Diese Tendenz birgt das eigentliche Problem einer „digitalen“ Schule, da sich viele denkbare und sinnvolle digitale bzw. digitalgestützte Lernszenarien nur eingeschränkt mit einem Smartphone nutzen lassen, z.B. intensivere Schreibaufgaben wie die Arbeit an einem E-Portfolio. Während diese technischen Hindernisse also zunehmend an Bedeutung verlieren, zeigt sich dafür immer deutlicher, dass die vorhandene Technik in der letzten Dekade nur das Nutzungsverhalten, nicht aber den kompetenten Umgang mit den digitalen Technologien verändert hat. So lässt sich z.B. aus der JIM-Studie 2019 anhand der Internetnutzung schließen, dass Kommunikation und Informationssuche zugunsten von Spielen und Unterhaltung seit 2009 erheblich an Bedeutung verloren haben.[2] Gleichzeitig belegen zum ICT-Kompetenzniveau[3] durchgeführte Studien mit Achtklässlern (2. ICILS-Studie, N = 3655) sowie mit angehenden (N = 1911) und fortgeschrittenen (N = 1991) Studierenden, dass ein Fünftel der Studienanfänger (Senkbeil, Ihme et al. 2019:1378) bis ein Drittel der Jugendlichen (Eickelmann, Bos, Gerick et al. 2019:127) über kein ausreichendes Maß an digitaler Grundbildung verfügen, d.h. weder über basale Kenntnisse noch Fertigkeiten zur (angeleiteten) Bearbeitung von Dokumenten hinauskommt. Selbst das am Ende des 6. Fachsemesters „normativ erwartete Kompetenzniveau Proficient erreicht […] nur knapp die Hälfte der fortgeschrittenen Studierenden (48%)“ (Senkbeil, Ihme et al. 2019:1378).[4] Auf der Basis der angeführten Studien wird deutlich, wie dringend Auf- und Ausbau einer ICT- bzw. Digital Literacy unter Lernenden jeden Alters ist. Allerdings zeigen die Befunde auch, dass diejenigen, die diesen Kompetenzerwerb in erheblichem Maße befördern sollen, selbst weder über ausreichende Kompetenzen verfügen noch mehrheitlich an digitalisierungsbezogenen Fortbildungen teilnehmen.[5] Ist das Ziel der KMK, die digitalisierungsbezogenen Kompetenzen im Unterricht aller Fächer (und nicht etwa in einem speziellen Fach wie z.B. Informatik) zu erwerben, also zum Scheitern verurteilt?

 


[1] Laut Feierabend et al. (März 2019:9) verteilen sich – ohne erkennbaren Bezug zum Bildungshintergrund – Besitz eines eigenen Smartphones (und uneingeschränkter WLAN-Zugang) wie folgt auf die untersuchten Altersgruppen: 12-13 = 84 % (76 %), 14-15 = 93 % (83 %), 16-17 = 96 % (88 %), 18-19 = 99 % (97 %).

[2] 2009 (N = 1173) und 2019 (N= 1181): 47 % (33 %) Kommunikation, 18 % (26 %) Spiele, 14 % (10 %) Informationssuche, 22 % (30 %) Unterhaltung (z. B. Musik, Videos, Bilder) (vgl. Feierabend et al. (März 2019:25)).

[3] ICT = Information and Communication Technology. Die Studien verwenden ein vergleichbares, fünfstufiges Modell zur Kompetenzbeschreibung (Senkbeil, Eickelmann et al. (2019:91); Senkbeil, Ihme et al. (2019:1371), das allerdings bei Senkbeil, Ihme et al. zusätzlich in die Kompetenzlevel Basic (319-506 Punkte) und Proficient (≥ 507 Punkte) aufgeteilt ist.

[4] Hinzu kommt, dass besonders hohe Anteile von Studierenden unterhalb des jeweiligen Mindeststandards in den Sprach- und Kulturwissenschaften identifiziert werden konnten (Senkbeil, Ihme et al. (2019:1379)).

[5] „In den zwei Jahren vor der Erhebung haben vergleichsweise geringe Anteile an Lehrkräften an einem Kurs oder Webinar zur Integration digitaler Medien in Lehr- und Lernprozesse (31.5%), einer Schulung zur fachspezifischen Verwendung digitaler Lehr- und Lernressourcen (30.7%), einem Kurs zu Anwendungsprogrammen (26.2%) oder einem Kurs zur Nutzung digitaler Medien durch Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf (4.6%) teilgenommen (internationale Mittelwerte: 46.1% bzw. 50.0% bzw. 50.9% bzw. 23.8%).“ (Eickelmann, Bos, Labusch (2019:16))

Umfrage unter Studierenden der lateinischen Philologie

Anzahl: 20

Zeitpunkt: zu Beginn des Sommersemsters 2020

Teilnehmer: Studierende im Bachelor und Master aus jeweils einem E-Learning-Seminar

Ergebnisse:

In der Befragung wurde vor allem das Nutzungsverhalten hinsichtlich verschiedener Aspekte untersucht. Grundsätzlich kann festgestellt werden, ...

1. dass nur drei Studierende schon einmal einen Online-Kurs ausprobiert haben,

2. dass die seitens der HU angebotenen Software-Lösungen überwiegend eher nicht genutzt werden,

Balkendiagramm zur Frage "Ich habe mit Software-Lösungen, die die HU bereitstellt, gearbeitet"

3. dass auch andere Software-Lösungen nur wenig und für den LU relevante Software nahezu gar nicht genutzt wird,

Balkendiagramm zur Frage "Ich habe mit folgenden weiteren Software-Lösungen gearbeitet"

4. dass die Studierenden überwiegend (18) mit einem Netbook/Notebook/Laptop arbeiten [Smartphone = 0, Tablet = 0, Pc mit Monitor = 0],

5. dass sie selbst an den Einsatz von Webcam und Mikro (regelmäßiger Einsatz: Webcam = 5, Mikro = 7) wenig gewöhnt sind,

6. dass die Studierenden auch hinsichtlich der Installation von Software [Item "Ich installiere Software:" nie = 1, selten = 9, manchmal =7 oft = 3] und Nachnutzbarkeit von Materialien [Item "Wenn ich Materialien zur digitalen Nutzung erstelle, ..." (Mehrfachantworten) "will ich sie auch in anderen Anwendungen nutzen können." (11), "will ich sie z.B. als pdf exportieren können." (15); "will ich sie auch nach längerer Zeit noch aufrufen und nutzen können." (19), "will ich, dass die Lernenden Zugang haben, ohne sich anmelden zu müssen." (10); Sonstiges: "will ich Kompatibilität mit unterschiedlicher Hardware."] Entwicklungspotential zeigen,

7. dass sie zwar informell lernen (ja = 12, nein = 8), dieses Lernen aber wohl weniger durch digitale Tools gezielt unterstützt wird (Ausnahmen bilden YouTube = 10 und Wikipedia = 10) und

8. dass die Studierenden in Bezug auf Datenschutz und Datensicherheit sensibel, z.T. jedoch auch wenig erfahren sind.

Kreisdiagramm zum Item "Ich kenne mich mit den Datenschutzeinstellungen an meinem Computer aus:"   Balkendiagramm zum Item "Wenn ich einen Account anlege ..." 

 

Digital Literacy als Bildungsziel

Digital literacy wird im Anschluss an Gilster (1997), Martin (2006) und Bawden (2008) als ein sehr weit gefasstes Konzept verstanden, das keineswegs auf eine spezielle Technologie oder eine besondere Darstellungsform der Information begrenzt ist. „Digitale Literalität“ bezieht sich daher nicht nur auf einzelne Kompetenzen wie z.B. information oder media literacy, sondern ist in Fortführung von Humboldts Idee der allgemeinen Menschenbildung als digitale Bildung des Einzelnen zu verstehen, die neben zentralen Kompetenzen auch Grundfertigkeiten (Lesen, Schreiben, kritisches Denken), Orientierungswissen (Hintergrundwissen zu Informationen) und Haltungen (Lebenslanges Lernen, Werte) umfasst.

Modell der Digital Literacy auf die Studienfächer Latein und Altgriechisch bezogen

Literatur:

  • Bawden, David (2008): Origins and concepts of digital literacy. In: Digital literacies: Concepts, policies and practices 30, S. 17–32.
  • Gilster, Paul (1997): Digital literacy. New York, NY u. a.: Wiley.
  • Martin, A. (2006): Literacies for the Digital Age. In: Martin, A.; Madigan, D. (Hrsg.): Digital Literacies for Learning, S. 3–25. London: Facet Publishing.

 

Warum Digital Literacy in der Klassischen Philologie?

Die eigene Digital Literacy sollte jeder/jede ausbauen wollen, ...

  • ... um digitale Editionen verstehen, bewerten und (nach)nutzen zu können, z.B. für den Einsatz in der Lehre.
  • ... um (linguistische) digitale Forschungsinstrumente und allgemeine Applikationen nutzen zu können, z.B. für (semantische) Textanalysen.
  • ... um Wissen der Klassischen Philologie auf neue Art anzuordnen, z.B. für einen parallelen Vergleich von Motiven bei verschiedenen Autoren.
  • ... um Texte neuartig visualisieren und dadurch Literatur besser verstehen zu können, z.B. durch Hervorheben identischer Strukturen bei verschiedenen Autoren.
  • ... um neue Daten zusammenzutragen und sich darüber austauschen zu können, z.B. durch das Annotieren von Metaphern.
  • ... um eigenständiges Lernen zu ermöglichen, z.B. durch den systematischen Einsatz von mehrfachverlinkten Kommentaren.